G. Hausmann u.a. (Hrsg.): The Political Cult of the Dead in Ukraine

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Titel
The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today


Herausgeber
Hausmann, Guido; Sklokina, Iryna
Reihe
Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe (14)
Erschienen
Göttingen 2021: V&R unipress
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bozhena Kozakevych, Lehrstuhl für Entangled History of Ukraine, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Die ukrainische Erinnerungspolitik ist spätestens seit den Maidan-Ereignissen 2013 und dem Beginn des russländischen Krieges gegen die Ukraine 2014 in den Fokus einer Reihe wissenschaftlicher Publikationen, aber auch politischer Spekulationen geraten. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes setzen solchen Mutmaßungen eine fundierte wissenschaftliche Analyse entgegen. Ukrainische Erinnerungskultur ist kein neues Thema im wissenschaftlichen Diskurs.1 Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von der ukrainischen Historikerin Iryna Sklokina und dem deutschen Historiker Guido Hausmann, rückt auf knapp 300 Seiten den politischen Totenkult in der Ukraine des 20. und 21. Jahrhunderts in den Fokus der erinnerungspolitischen Debatten.

Die Forscherinnen und Forscher setzen die ukrainische Erinnerungs- und Gedenkkultur zwischen 2014 und 2019 in den breiteren historischen Kontext des 20. Jahrhunderts und verbinden diese teilweise auch mit früheren Gedenkpraktiken aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Wie der Herausgeber in der Einleitung beschreibt, nehmen die Beiträge zivile Opfer nicht in den Blick. Den kurzen Einleitungen zu jedem Artikel, die theoretische Ansätze und Fragestellungen definieren, folgen historische Detailstudien, die eine differenziertere Betrachtung der ukrainischen Erinnerungs- und Gedenkprozesse ermöglichen.

Den theoretischen Rahmen bilden die Forschungen von Reinhart Koselleck und George L. Mosse zur Entstehung der Gedenkkulturen an Gefallene in Europa seit dem 18. Jahrhundert.2 Beide Historiker bauten ihre Hypothesen vor allem auf den Fallbeispielen Deutschlands und Frankreichs auf. In der Einleitung erläutert Guido Hausmann die Herausforderungen bei der Anwendung dieser Theorien auf die Ukraine. Während sich der politische Totenkult in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe erschöpft hat, wird er in der Ukraine stets bedeutsamer. Jedoch hält der Verfasser auch fest, dass die Merkmale der ukrainischen Geschichte des Totenkults sich in den europäischen und globalen Kontext ähnlicher Kulte einfügen.

Der Sammelband illustriert durch lokale und überregionale Fallbeispiele die Vielfalt und die Verwobenheit verschiedener politischer Totenkulte in der Ukraine. Das Gedenken an Gefallene ist immer ein politischer Akt, ungeachtet der politischen Umstände. Diese These beleuchtet Polina Barvinska, indem sie die Gedenkpraktiken an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten behandelt und deren Transformation vor und nach 1991 in Odesa beschreibt. Die ukrainische Historikerin untersucht unter anderem den misslungenen Versuch der rechten Partei „Svoboda“, das Gedenken an die Organisation Ukrainischer Nationalisten/Ukrainische Aufständische Armee (OUN-UPA) in der Stadt zu etablieren. Die Darstellung der Transformationen in der Erinnerungslandschaft auf der lokalen Ebene von Odesa zeigt auch die Vielschichtigkeit des Totenkultes in der Ukraine auf. Vor 1991 überwog die heroisierende Erinnerung an Gefallene. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 entstanden Initiativen, die das Gedenken an zivile Opfer des Zweiten Weltkrieges fordern, vor allem an die im Holocaust ermordeten jüdischen Frauen, Kinder und Männer. Offizielle Veranstaltungen fanden bis 2014 dennoch weiterhin an Soldatendenkmälern statt. Das veränderte sich 2014 mit der Aufnahme des Holocaust in die offiziellen Gedenkpraktiken.

Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den offiziellen und privaten Gedenkpraktiken stellen einige AutorInnen. So rekonstruiert Iryna Sklokina zum Beispiel die Logik hinter der Errichtung von Gedenkorten für im Zweiten Weltkrieg gefallene Soldaten in der Ukraine vor 1991. Dabei geht sie auf die Motive einzelner Akteure ein: der Regierung in Moskau, der lokalen Parteifunktionäre und der Angehörigen der Gefallenen.

Einen weiteren Themenkomplex bildet die Rolle von religiösen Symbolen für den Totenkult. Olena Petrenko beleuchtet die Tendenz des Verschmelzens von religiösen und nationalen Komponenten bei Gedenkzeremonien, die an die Gefallenen aus den Reihen der OUN erinnern. Sowjetische Funktionäre bedienten sich der Kirchensprache bei der Errichtung von Gedenkorten und der Entwicklung von kommemorativen Praktiken, wie Iryna Sklokina in ihrem Artikel zeigt. Die kirchlichen Institutionen konnten auch selbst zu Mitgestaltern des Totenkultes werden, wie Yuliya Yurchuk am Beispiel der Erinnerungen an die Schlacht von Hurby herausarbeitet. Bei diesem Ereignis geht es um den Kampf zwischen den Truppen des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) und der zahlenmäßig unterlegenen OUN-UPA im Jahr 1944. Die Vertreter der Kirche aus der Region Rivne, wo die Schlacht stattfand, beeinflussten sowohl die Gedenkpraktiken als auch die architektonische Gestaltung des Gedenkortes an dieses Ereignis, indem sie ein Klostergebäude als Teil des Gedenkortes forderten und Gedenkzeremonien mitprägten.

Das Märtyrertum ist eine wichtige Komponente des Totenkults. Kateryna Kobchenko und Olena Petrenko gehen der Frage nach, welche Rolle Frauen im Totenkult einnehmen. In Ihren Beiträgen zeichnen sie die Darstellung des Todes von Frauen in der OUN und im sowjetischen Heldenpantheon. In der modernen ukrainischen Erinnerungslandschaft spielt der berüchtigte Kult um die Waffen-SS-Division „Galizien“ keine große Rolle. Olesya Khromeychuk zeigt an diesem Beispiel anschaulich die Diversität der Erinnerungen sowie die Koexistenz verschiedener Narrative im öffentlichen Raum.

Zwei Beiträge behandeln den Totenkult in den Nachbarländern der Ukraine: im Polen der Zwischenkriegszeit sowie in der Russländischen Sowjetrepublik und Russländischen Föderation nach 1991. In der Einleitung erklärt Guido Hausmann diese Themenwahl damit, dass die beiden Fallbeispiele auf die Manifestation des Totenkultes in der Ukraine Einfluss nahmen oder sich mit ihm überschnitten. Jagoda Wierzejska untersucht die Herausbildung des Totenkultes um die „Lviver Adler“ (polnisch „Orląta lwowski“), polnische Kinder- und Jugendsoldaten während des polnisch-ukrainischen Krieges von 1918/19. In der Beschreibung der konkurrierenden Erinnerungen des multiethnischen Lviv der Zwischenkriegszeit entsteht der Eindruck, dass innerhalb der jeweiligen ethnischen Gruppen homogene Einstellungen zum polnisch-ukrainischen Krieg bestanden hätten. Tatsächlich waren die Stimmungen in diesen ethnischen Gruppen jedoch sehr divers und man kann lediglich von gewissen Tendenzen innerhalb der einen oder anderen Gruppe sprechen. Für weitere Erkenntnisse über die polnisch-ukrainischen Erinnerungskulturen wäre ein Einblick in das Gedenken an die „Lviver Adler“ nach 1939 fruchtbar.

Ekaterina Makhotina und Philipp Brüger erforschen die Gedenkorte an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Makhotina und Brüger betrachten den militärischen Ruhm als ein Bindeelement der russländischen Geschichte. Aus dem Beitrag erschließt sich allerdings nicht ganz, welche Relevanz dieses Thema für den politischen Totenkult in der Ukraine hat. Man kann davon ausgehen, dass die Inszenierung des sowjetischen Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ als „Russländischer Sieg“ zu Reaktionen auf ukrainischer Seite führte. Diesen könnte man nachgehen, um die Wechselwirkungen zwischen den russländischen und ukrainischen Erinnerungspolitiken nachzuzeichnen.

Alle Beiträge fragen nach der Bedeutung des politischen Totenkultes für die Nationsbildungsprozesse in der Ukraine. Die Autorinnen und Autoren kommen zur Schlussfolgerung, dass kein einziger der Totenkulte identitätsstiftend für die Mehrheit der Gesellschaft sein konnte. Dafür sind sie zu fragmentarisch und die meisten der politischen Totenkulte existieren nebeneinander, treten in Konkurrenz oder überlappen sich, wie etwa das Beispiel der Übernahme sowjetischer Praktiken in das Gedenken an Gefallene der OUN-UPA zeigt. Serhy Yekelchyk gibt einen Einblick in die Herausbildung des Kultes um die „Himmlische Hundertschaft“ – die Gefallenen während der Proteste auf dem Maidan 2013/14. Ihre Erinnerung gestaltet sich im Vergleich zu anderen Totenkulten deutlich personalisierter. Sie kann jedoch nicht als das einheitsstiftende Element der ukrainischen Gedenkkultur betrachtet werden.

Der Sammelband stellt eine Art Momentaufnahme des Totenkultes in der Ukraine bis 2019 dar. Die großflächige Invasion Russlands in die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 verändert die erinnerungspolitische Landschaft grundlegend. Ungeachtet dessen erlauben die Beiträge präzise Einblick in die Verwobenheit der ukrainischen Erinnerungskulturen. Sie verdeutlichen, dass Erinnerungsprozesse der fundierten Analyse ihrer historischen und lokalen Kontexte bedürfen.

Anmerkungen:
1 David R. Marples, Heros and Villains. Creating National History in Contemporary Ukraine, Budapest 2007; Georgiy Kasianov, Memory Crash. The Politics of History In and Around Ukraine, 1980s–2010s, Budapest 2022; Julie Fedor / Markku Kangaspuro / Jussi Lassila / Tatiana Zhurzhenko (eds.), War and Memory in Russia, Ukraine and Belarus, Cham 2017.
2 Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard / Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität, München 1979, S. 255–276; George L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the Memory of the World Wars, New York 1990.

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